Eine psychologische Analyse der Anti-Lockdown-Stimmung – 4 Wochen nach Beginn des Lockdowns.
Es ist Ostersamstag, 11.04.2020, kurz nach 13:00 Uhr. Vor etwa 4 Wochen begann der so genannte „Lockdown“ in Deutschland. Seit 4 Wochen heißt es nun also #staythefuckhome oder #wirbleibenzuhause.
Die psychologischen Auswirkungen, Tipps zum Arbeiten im Homeoffice und Strategien im Umgang mit der Krise wurden vielfach im Netz diskutiert. Durch meine Trainer-Kollegin Claudia Hoppe. Stieß ich heute bei Facebook auf folgenden Artikel: Stimmungsumschwung in der Coronakrise – Gefährlicher Verdruss. Unter dem Facebookpost wurde die Frage nach den Gründen aufgeworfen. Diese Frage möchte ich in diesem Artikel beantworten. Wie die oben genannten Hashtags und Umfragen aus der Anfangszeit der Maßnahmen zeigen (Forsa, zitiert nach Coolis.de), waren doch noch vor ein paar Wochen eindeutig die meisten Menschen der Meinung die Maßnahmen wären richtig. Sogar noch zu lasch. Die Ausgangssperre wurde gefordert. Und nun dreht sich der Wind. Die Leute fordern Lockerungen, halten die Maßnahmen zunehmend für übertrieben, haben weniger Angst vor dem Virus und halten sich den Daten von Herrn Brockmann (HU Berlin) zufolge nicht mehr so häufig zu Hause auf. Zudem lässt sich beobachten, dass das Abstandsgebot nicht mehr so konsequent eingehalten wird. Warum denn das so plötzlich?
Zur Erklärung dieser Verhaltensweisen lassen sich im Wesentlichen vier gut erforschte psychologische Phänomene als Erklärung heranziehen. Reaktanz, unrealistischer Optimismus und das individuelle Risikoniveau.
Reaktanz entsteht, wenn unsere Handlungsfreiheit eingeschränkt wird. Sie wird als ein aversiver (Widerwillen hervorrufender) Zustand beschrieben. Wird Reaktanz erlebt, besteht der Drang die eigene Handlungsfreiheit wiederherzustellen, indem das unerwünschte Verhalten ausgeführt wird (Brehm, 1966).
Warum erst jetzt? – Eine Frage der Einstellung
Nun könnte man einwenden: Warum steigt erst jetzt die Reaktanz messbar? Unsere Freiheit ist doch schon länger eingeschränkt? Das stimmt. Und die „Corona-Partys“ zu Beginn des Kontaktverbotes waren ja auch schon ein Ausdruck von Reaktanz. Der Grund, warum jetzt die Reaktanz in der Gesamtbevölkerung merklich steigt, liegt zum einen daran, dass sich wie im o.g. Artikel beschrieben, die Einstellung der Menschen zu den Maßnahmen verändert. Am Anfang war die Situation noch neu und ungewohnt. Manch einer konnte der Situation sogar etwas Positives abgewinnen. Außerdem hatte man aufgrund der recht einheitlichen Darstellung der Interpretation der Zahlen das Gefühl die Maßnahmen sind notwendig. Mittlerweile weiß man, dass die Zahlen gar nicht so aussagekräftig sind, wie sie zunächst schienen. Daraus erwächst eventuell das Gefühl manipuliert worden zu sein, woraus sich zum Teil die Reaktanz speist.
Veränderte Handlungs-Ergebnis-Erwartungen
Gleichzeitig werden die Maßnahmen als weniger notwendig empfunden, da auch verhältnismäßig wenig Personen direkt oder indirekt von einer letal verlaufenden Erkrankung betroffen sind. Das heißt, die sogenannten Handlungs-Ergebnis-Erwartungen haben sich verändert. Die Menschen nehmen nicht wahr, dass ihr Verhalten einen positiven Einfluss auf die persönlichen Konsequenzen hat. Im Gegenteil. Langsam bekommen die Menschen die negativen Folgen der Maßnahmen wie die Auswirkungen der sozialen Isolation, der Kurzarbeit, des Homeschoolings und Homeoffice etc. zu spüren. Dadurch verändert sich gemäß der Wert-Erwartungstheorien (z.B. Rotter, 1954) die Einstellung der Menschen. Dabei wird häufig vergessen, dass die geringen Fallzahlen von Corona im eigenen Umfeld ja gerade aufgrund der Maßnahmen erst zustande kommen!
Unrealisitischer Optimismus
Erschwerend kommt der so genannte unrealisitische Optimismus hinzu. Dieser sorgt dafür, dass wir uns selbst als weniger gefährdet ansehen als den Durchschnitt. Nach dem Motto: „Mir passiert schon nichts“ oder: „Wenn ich Corona bekomme, dann sicher mit mildem Verlauf.“ Das lässt uns unvorsichtiger werden.
Individuelles und wahrgenommenes Risikoniveau
Ein weiterer wichtiger Punkt ist die zunehmende Verwendung von Masken. Psychologisch können diese sogar kontraproduktiv wirken. Denn eine Maske verändert das wahrgenommene Risikoniveau des Individuums. Sie suggeriert stärkeren Schutz. Medizinisch mag das stimmen, allerdings auch nur, wenn man sich weiter an andere Regeln (trotz Maske nicht ins Gesicht fassen, Abstand halten) hält. Das Problem ist: Menschen haben ein bestimmtes „individuelles Risikoniveau“ (Wilde, 1982). Also eine gewisse Bereitschaft ein bestimmtes Risiko in Kauf zu nehmen. Wenn nun das wahrgenommene Risikoniveau sinkt (z.B. durch das Tragen einer Maske), ist der Maskenträger eher bereit andere Risiken einzugehen, bis sein individuelles Risikoniveau mit dem wahrgenommenen Risikoniveau übereinstimmt. Das heißt, die Menschen denken: „Ich trage ja eine Maske, dann passiert mir und den anderen ja wahrscheinlich nichts. Dann brauche ich auch weniger Abstand halten.“ Ähnlich wie der Skifahrer, der schneller und riskanter fährt, wenn er einen Helm trägt.
Ausblick
Vorsicht ist also weiterhin geboten. Ich glaube auch nicht, dass die Stimmung komplett kippen wird und sich die Menschen massenweise über die Verbote hinwegsetzen. Zum einen ist der soziale Einfluss der Mehrheit noch groß genug, um die Norm für das zu Hause bleiben zu setzen. Zweitens glaube ich, dass wenn es doch eine signifikante Zahl der Menschen gibt, die das Kontaktverbot ignorieren, die Zahl der Neuansteckungen steigen wird, so dass dann entweder von Amtswegen härtere Maßnahmen verordnet werden oder das Kontaktverbot noch stärker eingehalten, kontrolliert und durchgesetzt wird – auch von der Bevölkerung selbst.
Damit das gar nicht erst passiert: Haltet Abstand! Ob mit oder ohne Maske und bleibt gesund!